Artikel vom 
Februar 23, 2022

Du bist mehr als deine psychische Erkrankung

Lesedauer 3 Minuten

Mal angenommen, dir geht es psychisch nicht gut, du suchst dir professionelle Hilfe und erhältst die Diagnose einer psychischen Erkrankung, z.B. einer Angststörung oder einer Depression. Wie gehst du damit um? Geht es dir jetzt anders als vorher? Mit wem sprichst du darüber? Menschen mit psychischen Erkrankungen sind noch immer mit gesellschaftlicher Stigmatisierung konfrontiert. Häufig wird eine psychische Erkrankung mit Schwäche in Verbindung gebracht, damit, nicht belastbar zu sein oder sogar Schuld an der Erkrankung zu haben. Das kann zur Folge haben, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen sich gar nicht erst oder nicht frühzeitig professionelle Hilfe suchen oder dass sie nicht offen mit dem Thema umgehen können und sich verstecken.

(Warum) macht es einen Unterschied, ob wir einen Beinbruch oder eine psychische Erkrankung haben?

Eine Antwort darauf ist: psychische Erkrankungen können wir nicht sehen. Wir sehen, dass es einem Menschen nicht gut geht, dass er oder sie weint, verzweifelt ist, oder sich zurückzieht. Aber was wir nicht sehen können ist, wie die Erkrankung aussieht, wie schlimm sie ist, wie weit sie schon “verheilt” ist. Wir wissen, wann eine Erkältung vorbei ist, wir sehen, wie ein Beinbruch verheilt. Mit anderen Worten: Wir haben etwas, woran wir uns festhalten können. Das ist bei psychischen Belastungen nicht unbedingt der Fall. Von außen betrachtet ist es schwer zu sagen, warum ein Mensch an Ängsten oder einer Depression leidet, wie lange es dauert, bis sie “verheilt” sind oder was es dazu braucht. Es ist kein externer Auslöser zu erkennen, wie es bei einer körperlichen Krankheit oft der Fall ist. Einige Menschen tendieren dann vielleicht dazu, diese “Lücken” im Wissen mit Annahmen zu füllen. Doch das kann zu Stigmatisierung, Verletzungen und Druck führen.

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Ein weiterer Grund, warum häufig ein Unterschied zwischen körperlichen und psychischen Erkrankungen gemacht wird, ist die Art der Diagnostik von psychischen Erkrankungen. Anhand von Kriterien wird entschieden, ab wann das Erleben und Verhalten eines Menschen eine psychische Störung und damit eine Abweichung einer Norm darstellt. Doch was für die eine normal ist, ist für den anderen vielleicht schon belastend. Diese individuellen Faktoren werden natürlich von Ärzt:innen und Psycholog:innen mit betrachtet, eine Diagnose bildet dies aber nicht ab, sodass in der Gesellschaft psychische Erkrankungen häufig falsch wahrgenommen werden und mit Vorurteilen belegt sind. 

Ist die Diagnose ein Stempel, der uns beschreibt?

Viele Menschen sehen die Diagnose wie ein Stempel, nach dem andere und wir selber uns beurteilen. Immer wieder taucht die Frage nach der Notwendigkeit einer psychischen Diagnose auf. Und man kann sich fragen, ob durch eine Diagnose möglicherweise tatsächlich erst die Kategorien entstehen, die Menschen in “normal” und “krank” einteilen. Damit könnte sie womöglich sogar zu einer Aufrechterhaltung der psychischen Probleme führen, wenn wir uns der Diagnose entsprechend verhalten, uns also quasi selbst stigmatisieren (“Ich kann nicht gut für mich sorgen, weil ich eine Angststörung/Depression/… habe”). Betrachtet man die Diagnose einer psychischen Störung (nur) auf diese Weise, kann das dazu führen, dass wir uns also stark mit einer psychischen Störung identifizieren. Und das kann Schaden anrichten.

Was wir dabei oft vergessen

Der Mensch ist komplex. Er hat nicht nur eine Identität, die aus bestimmten Eigenschaften und Charakterzügen besteht, er verhält sich nicht in jeder Situation gleich. Das Verhalten, die Gedanken und Gefühle eines Menschen sind in der Regel kontext- und situationsabhängig. Eine Diagnose beschreibt in der Regel jedoch einige (belastende)  Symptome, die nur in bestimmten Kontexten auftreten - und damit nicht den gesamten Menschen. Eine Diagnose scheint zu sagen: “du bist krank”, was für den gesamten Menschen und alle Lebensbereiche zu gelten scheint. Sie kann nicht abbilden, dass es sich nur um einen kleinen Teil des betroffenen Menschen handelt. Doch das ist die eigentliche Wahrheit: Du bist nicht krank. Du bist nicht deine Angst oder deine Depression, sie beherrscht dich nicht. Sie definiert nicht, wer du bist.

Wie wir die Diagnose einer psychischen Erkrankung eher betrachten sollten

Wenn es uns nicht gut geht und wir uns psychisch belastet fühlen vergessen wir manchmal, dass das nicht unser gesamtes “Ich” abbildet. Mal geht es uns besser, und mal geht es uns schlechter, das kann durch eine Angststörung, Depression oder eine andere psychische Erkrankung bedingt sein. Eine psychische Erkrankung kann dich auf deinem Lebensweg ein kurzes (oder längeres) Stück begleiten, sie ist in einer bestimmten Zeit, Situation oder Kontext dann auch ein Teil von dir. Aber eben nur ein Teil, denn du bist viel mehr als das. Du kannst dich zwar nicht für oder gegen die Entstehung einer psychischen Erkrankung entscheiden. Aber du kannst dich dafür entscheiden, sie nicht zu deiner Identität werden zu lassen, etwas gegen sie zu unternehmen und dein Ich als individuelles und besonderes Ganzes zu betrachten.

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Friederike Schubbert

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