Lesedauer 7 Minuten Essstörung besiegen: Erfahre mehr über Hintergründe, Symptome und Behandlungsoptionen, um mit Essstörungen umzugehen.
Stell dir vor, du stehst vor deinem Kühlschrank und dich überkommt ein unaufhaltbarer Drang, zu essen. Der Drang ist so stark, dass du ihm einfach nicht widerstehen kannst und du beginnst die restlichen Nudeln von gestern abend zu essen, den danebenstehenden Vanille-Joghurt, die letzten Tomaten aus dem Gemüsefach, gefolgt von Lebensmitteln aus dem Küchenschrank: Chips, Schokoriegel, die Thunfisch-Dose. Es ist, als würdest du dich im Essen regelrecht verlieren, als könntest du einfach nicht aufhören. Du isst ganz schnell, bevor jemand nach Hause kommt und dich dabei sieht. Eigentlich hattest du ja gar keinen Hunger, aber du konntest einfach nicht anders. Erst zu spät merkst du, dass du eigentlich total voll bist. Dir wird vielleicht sogar übel und du fühlst dich schlecht: schämst dich, wirst traurig, wertest dich ab.
Kommt dir das bekannt vor? Und kommen diese Essanfälle regelmäßig vor? Dann könnte es sein, dass du an einer Binge-Eating-Störung leidest. Aber was ist das eigentlich?
Der Begriff to binge kommt aus dem Englischen und bedeutet wörtlich übersetzt so viel wie “verschlingen” oder netter ausgedrückt “innerhalb kürzester Zeit viel von etwas konsumieren innerhalb kürzester Zeit”. To binge wird auch umgangssprachlich im Deutschen häufig verwendet. Wir bingen die neue Staffel unserer Lieblingsserie an einem Sonntag durch. Wenn uns ein Buch richtig fesselt, können wir ins binge-reading kommen, bei dem wir das Buch einfach nicht mehr aus der Hand legen können und uns nichts anderes mehr interessiert. Wenn viel Alkohol im Spiel ist, betreiben manche von uns binge-drinking.
Mit dem Binge-Eating ist also die Einnahme großer Mengen an Nahrung innerhalb kürzester Zeit gemeint. Die Binge-Eating-Störung zählt somit zu den Essstörungen. Bezeichnend für das Binge-Eating ist das damit einhergehende Gefühl des Kontrollverlustes. Es ist für Betroffene schier unmöglich, den Essanfall zu steuern bzw. zu stoppen, bevor es zu spät ist und das Völlegefühl, die Übelkeit bzw. die Scham und andere unangenehme Gefühle einsetzen.
Die Binge-Eating-Störung ist nicht bloß von wiederkehrenden Essanfällen gekennzeichnet. Es gibt eine Vielzahl an Symptomen, unter denen Betroffene leiden. Zu den häufigsten gehören:
Das anfallsartige Essen großer Mengen, wobei innerhalb kurzer Zeit mehr gegessen wird, als der Durchschnitt der Menschen in dieser Zeitspanne essen würde.
Nicht aufhören können zu essen. Keine Kontrolle darüber empfinden, was oder wie viel gegessen wird. Betroffene erleben eine Ohnmacht sich selbst gegenüber und haben den Eindruck, den Essanfall nicht steuern zu können. Folgende Verhaltensweisen gelten als Indikatoren für einen Kontrollverlust:
Du verschlingst dein Essen, bzw. isst sehr zügig. Das Essen findet dabei häufig nebenbei, z.B. im Stehen, statt.
Du isst so lang, bis sich ein Völlegefühl einstellt bzw. körperliche Schmerzen, wie Bauchschmerzen, auftreten.
Viele Menschen essen heimlich, verstecken ihre Lebensmittelvorräte oder lügen über ihre Essgewohnheiten, um ihr Verhalten zu verstecken und um sich weniger zu schämen oder schuldig zu fühlen.
Nach einem Essanfall erleben Betroffene meist intensive unangenehme Emotionen. Besonders häufig werden starke Scham- und Schuldgefühle benannt, aber auch Ekel oder Deprimiertheit.
Psycholog:innen sprechen von einer Binge-Eating-Störung, wenn die Essanfälle an mindestens 1 Tag in der Woche über einen Zeitraum von 3 Monaten auftreten und ein bedeutsames Leiden erzeugen.
Da bei der Binge-Eating-Störung im Gegensatz zur Bulimie keine regelmäßigen gegenregulierenden Maßnahmen ergriffen werden, wie Erbrechen, exzessiver Sport oder die Einnahme von Abführmitteln, kommt es im Zuge der Binge-Eating-Störung auch häufig zu einer Gewichtszunahme. Dies belastet Betroffene meist zusätzlich. Die Binge-Eating-Störung kann Menschen aber selbstverständlich auch unabhängig von ihrer äußeren Erscheinung betreffen.
Die Binge-Eating-Störung ist auf keine bestimmte Altersgruppe oder Geschlecht beschränkt: Sie kann Menschen jeden Alters oder Geschlechts betreffen. Dennoch sind häufiger Frauen von ihr betroffen.
Obwohl die Binge-Eating-Störung über keine klare, eigenständige Diagnose verfügt und obwohl über diese Form der Essstörungen am wenigsten gesprochen wird, handelt es sich dennoch um die am weitesten verbreitete Essstörung. So sind 3% der Frauen und 1% der Männer von einer Binge-Eating-Störung betroffen. Vergleichsweise sind von einer Bulimie 2% der Frauen und 0,5% der Männer betroffen.
Die Dunkelziffer könnte bei der Binge-Eating-Störung zusätzlich sehr groß sein, da Scham bei dieser Störung eine so große Rolle spielt. Betroffene vermeiden es meistens, über ihre Essanfälle zu sprechen, aus Angst vor Ablehnung oder Stigmatisierung.
Bislang sind nur wenige Risikofaktoren bekannt, die zur Entwicklung einer Binge-Eating-Störung beitragen können. Da die Binge-Eating-Störung häufiger bei Frauen auftritt, ist das weibliche Geschlecht bereits ein Risikofaktor. Auch kindliches oder elterliches Übergewicht erhöhen die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung einer Binge-Eating Störung. Genetische Faktoren können eine Rolle spielen, wenn Essstörungen in der Familie sind. Aber auch biologische Faktoren, wie die Gehirnchemie, insbesondere im Zusammenhang mit Serotonin und Dopamin, da diese Neurotransmitter das Verlangen nach Essen und die Kontrolle über die Nahrungsaufnahme beeinflussen können.
Auch Umweltfaktoren können Einflussfaktoren abbilden, z.B. körperliche Vernachlässigung oder sexueller Missbrauch in der Kindheit. Was du in deiner Familie über Essverhalten gelernt hast, spielt ebenfalls eine Rolle. Familiäre Muster, wie das regelmäßige Abhalten von Diäten, messen der Figur und dem Gewicht eine hohe Bedeutsamkeit bei, die zusammen mit soziokulturellen Faktoren, wie dem sozialen Druck “dünn zu sein”, unser Verhältnis zu gesunden Essgewohnheiten beeinflussen und stören können.
Doch auch ein gegenteiliges Muster, z.B. Sätze wie “Jetzt wird richtig reingehauen!” und “Du musst immer aufessen!” oder der Einsatz von großen, langen Mahlzeiten als Belohnung für etwas und die darauffolgenden positiven Gefühle, können dazu führen, dass du ein gestörtes Essverhalten entwickelst.
Auch Selbstwertdefizite und Persönlichkeitseigenschaften wie Perfektionismus und negative Emotionalität stellen einen Risikofaktor für die Entwicklung einer Binge-Eating-Störung dar.
Auslöser für die Binge-Eating-Störung können kritische Lebensereignisse sein, wie Konflikte in Beziehungen, der plötzliche Tod eines nahen Angehörigen oder Stress. Dabei wird das Essen für manche zu einem Halt in schwierigen Zeiten - ein Ventil für den Abbau von Anstrengung, Stress und Druck. So werden beim anfallsartigen Essen nicht nur die Nahrung, sondern gleichermaßen auch die unangenehmen Emotionen und Zustände “runtergeschluckt”. Da Essen immer unser Belohnungssystem im Gehirn anfeuert, können Essanfälle somit einen ungünstigen Versuch darstellen, Gefühle wie Frust, Traurigkeit und Verzweiflung zu regulieren. Das Essen erhält auf diese Weise einen emotionalen Stellenwert. Betroffene haben insofern häufig Schwierigkeiten in der Emotionsregulation, so dass der Umgang mit Gefühlen zu einem zentralen Bestandteil der Therapie wird.
Die Binge-Eating-Störung nimmt ihren Beginn typischerweise im jungen Erwachsenenalter, ca. um das 20. Lebensjahr herum. Häufig liegen komorbide Erkrankungen, also weitere psychische Erkrankungen vor: 65% der Betroffenen leiden zusätzlich an einer Angsterkrankung, 63% haben eine Impulskontrollstörung (z.B. Haare oder Nägel ausreißen, Nägel kauen, pathologisches Stehlen, Glücksspiele) und 46% haben eine komorbide affektive Störung, z.B. eine Depression.
Der Verlauf einer Binge-Eating-Störung ist individuell und komplex. Der Teufelskreis der Binge-Eating-Störung lässt sich gut anhand der Schwierigkeiten in der Emotionsregulation erklären. Da die Essanfälle in der Regel mit dem Gefühl des Kontrollverlustes einhergehen und somit schwer zu stoppen sind, stellen sich anschließend häufig negative Gefühle ein, wie Scham, Schuld, Frust und Traurigkeit. Wer gelernt hat, diese negativen Gefühle mithilfe von Essen zu kompensieren, wird also eher einen weiteren Essanfall erleben, über den sich die negativen Gefühle weiterhin verstärken. Darüber hinaus ist der Magen dehnbar und weitet sich beim Verzehren großer Mengen von Nahrung immer weiter aus, so dass im Verlauf immer mehr konsumiert werden muss, bis das Völlegefühl erreicht wird, was mit einer größeren Gewichtszunahme und noch mehr negativen Gefühlen einhergehen kann.
Viele denken, die Rettung aus der Binge-Eating-Störung könnte eine Operation, z.B. eine Schlauch-Magen-OP sein. Eine Binge-Eating-Störung ist aber – anders als von einigen angenommen – mehr als nur “viel essen”. Es handelt sich schließlich um eine psychische Erkrankung. Daher erfordert die Behandlung der Binge-Eating-Störung eine umfassende Herangehensweise. Eine Psychotherapie ist dabei oft der Schlüssel zur Behandlung und umfasst verschiedene Bausteine.
In der Verhaltenstherapie wird zunächst intensiv an der Symptomatik gearbeitet, das bedeutet: Zunächst werden die Symptome bearbeitet und anschließend die Ursachen. Dabei werden folgende Schritte vorgenommen:
Fokus auf Essverhalten:
Die Behandlung zielt im Allgemeinen also darauf ab, die Symptome zu kontrollieren, ein gesundes Essverhalten zu entwickeln, die Lebensqualität zu verbessern und Rückfälle zu verhindern.
Während es keine Garantie für eine vollständige Heilung von Binge Eating gibt, können viele Menschen mit Binge-Eating-Störung ihre Symptome erheblich reduzieren und eine gesündere Beziehung zum Essen aufbauen. Die Behandlung der Binge-Eating-Störung unterliegt typischerweise einem besseren Verlauf als andere Essstörungen und hat mit einer Remissionsrate (= Heilungsrate) von 70% eine recht hohe Erfolgschance auf Symptomfreiheit bzw. eine spürbare Verbesserung in der Symptomatik.
Du musst als Angehöriger nichts an deinem Essverhalten ändern. Wenn Betroffene dies merken, kann dies in der Folge dazu führen, dass sich Scham- und Schuldgefühle weiterhin verstärken. Du kannst dich jedoch informieren, ein offenes Ohr anbieten und helfen, in dem du dich geduldig und verständnisvoll zeigst und bei der Suche nach professioneller Hilfe unterstützt. Wenn die Therapie läuft und dies erwünscht ist, kannst du auch dabei helfen, die Therapie-Hausaufgaben im Alltag umzusetzen. Zum Beispiel Betroffene beim Einkaufen und Zubereiten der Nahrung helfen oder gemeinsam ganz achtsam zu essen. Achte dabei immer auch auf dich, deine eigene psychische Gesundheit steht immer an erster Stelle!
Abschließend lässt sich sagen, dass Gesundheit nie in Extremen, sondern immer in der goldenen Mitte liegt. Versuche dich also von Diäten oder Trends fernzuhalten – sie sind schlimmstenfalls die Vorprogrammierung einer Essstörung! Wenn du isst, wenn du Hunger hast und darauf achtest, nicht zu schlingen, sondern langsam und achtsam isst, bist du meist gut beraten. Die Binge-Eating-Störung ist eine komplexe Herausforderung, aber die Forschung zeigt, du kannst die Kontrolle über dein Essverhalten zurückerlangen! Nur Mut!
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